Art Brut, Japan – Schweiz

1. April - 9. November 2014

2014 feiern die Schweiz und Japan das 150-Jahr-Jubiläum ihrer diplomatischen Beziehungen.
Das Museum im Lagerhaus greift diesen Anlass auf, um in der Gegenüberstellung einen Dialog
zwischen den Outsider-Welten Japans und der Schweiz zu eröffnen: Ist Art Brut eine ‹global
language›? Oder unterscheidet sich japanische von europäischer Art Brut?

Die Ausstellung ‹Art Brut – Japan – Schweiz› zeigt Werke von 41 japanischen KünstlerInnen
gegenüber ausgewählten schweizerischen Arbeiten von 16 schweizerischen KünstlerInnen der
eigenen Sammlung. Aus Japan sind keramische Arbeiten von Shinichi SAWADA dabei, die die
grosse Entdeckung an der Biennale in Venedig 2013 waren. Doch neben Shinichi SAWADA oder
Marie SUZUKI sind auch neue Arbeiten aus Japan darunter, die bislang noch nie in Europa zu
sehen waren.

150 Jahre diplomatische Beziehungen Japan–Schweiz im Museum im Lagerhaus
Anlässlich des 150-Jahr-Jubiläums diplomatischer Beziehungen zwischen der Schweiz und Japan
finden verschiedene Veranstaltungen statt, die das gegenseitige Verständnis beider Kulturen
und die Freundschaft zwischen den Ländern zum Ausdruck bringen sollen.

Das Museum im Lagerhaus, das sich prioritär mit schweizerischer Art Brut und Naiver Kunst
befasst, greift diesen Anlass auf, um einen Dialog zwischen den Outsider-Welten Japans und
der Schweiz zu eröffnen. Diskurs und Begegnung stehen nicht nur im Mittelpunkt des Jubiläums,
sondern bilden auch das Zentrum der Ausstellung: künstlerisch in der Gegenüberstellung 41
japanischer und 16 schweizerischer Art Brut-KünstlerInnen, wissenschaftlich mit einem inter-
nationalen Symposium in Zusammenarbeit mit der Universität Zürich und partnerschaftlich in
direkter Kooperation mit dem Partnerland Japan und dortigen Organisationen.

Neben den ‹Stars› japanischer Art Brut, wie Shinichi SAWADA, zeigt das Museum im Lager-
haus auch neue Werke aus Japan, die bislang noch nie in Europa zu sehen waren: neben frü-
hen Arbeiten von SAWADA (Autos, Busse aus Papier), Papierschnitte von Yuki FUJIOKA,
Zeichnungen von Yu FUJITA, Waraji GOSOKUNO, Shinichi KUSUNOKI, Yuichi NISHIDA, Makoto
OZU, Kenji TOMIYAMA und Yasushi USHIKI sowie Hefte von Takuma UCHIDA. Damit kann das
Museum im Lagerhaus einen einzigartigen Jubiläumsbeitrag bieten und das Feld der Art Brut
um einen interkulturellen Dialog bereichern.
Art Brut in Japan
Im Partnerland Japan erfährt die Art Brut eine hohe Aktualität und politische Aufmerksamkeit.
Anders als in Europa, wo sich das Interesse für Art Brut aus der künstlerischen Avantgarde
Anfang des 20. Jh. entwickelte, ist in Japan die Förderung von Art Brut ursprünglich sozial-
und gesundheitspolitisch motiviert. Mit dem Aufbau des Sozialfürsorgesystems ab 1946
änderte sich die Wahrnehmung von Menschen mit psychischer Beeinträchtigung und Behin-
derung, die bis dahin stark diskriminiert waren. Seit Eröffnung des Borderless Art Museums

NO-MA in der Präfektur Shiga, 2004, kommt Art Brut in Japan eine besondere Dringlichkeit
zu. Erst seit wenigen Jahren ist japanische Art Brut in einzelnen Ausstellungen in Europa zu
sehen und wurde in erstaunlicher Geschwindigkeit den internationalen Fachkreisen bekannt.

Mit der Präsentation Shinichi SAWADAs an der Biennale in Venedig 2013, wo er von den
Medien gefeiert wurde und auf der Titelseite des Kunstmagazins „Art“ erschien, hat japa-
nische Art Brut auch ein breiteres Publikum erfasst.

Das diplomatische Jubiläum bietet somit Gelegenheit, einen speziellen japanisch-schwei-
zerischen Diskurs zu Art Brut zu eröffnen. Dabei wird nach landesspezifischen kulturellen
Einflüssen gefragt: Ist Art Brut eine „global language“? Unterscheidet sich japanische von
schweizerischer bzw. europäischer Art Brut oder wie verhält es sich mit der „Art Brut Ja-
ponais“ (Kenjiro Hosaka) als eigenen Stil der Art Brut? Wie zeigen sich Einflüsse traditio-
neller japanischer Kunst oder der Manga-Kultur auf Art Brut? Entlang der Art Brut können
im direkten Ausstellungsdialog neue Diskussionen zwischen den Kulturen geführt werden.
Der Fokus liegt dabei auf der Vermittlung der japanischen Art Brut, die heute immer noch
vielen fremd ist. So widmet sich der begleitende Katalog den ausgestellten japanischen
KünstlerInnen, um ihr Werk einer europäischen Betrachtungsweise zu erschliessen.

Zwischen Tradition und Manga
Der Hintergrund der KünstlerInnen ist unterschiedlich wie die Formen mentaler Beeinträchti-
ung. Einige schaffen ihre Werke im Rahmen von Kunst-Ateliers verschiedener Fürsorgeein-
richtungen, andere arbeiten zu Hause, ganz für sich. Bei manchen KünstlerInnen expandie-
ren Fantasie und Ausdruckskraft in einem schier überbordenden Werk, anderen gilt das
kreative Arbeiten als ein Ritual, bietet das Werk ein Systemgefüge, in dem sie sich verorten
können. Sichtbar ist in vielen Werken das noch junge Alter einer Generation, die mit Manga
und Anime aufgewachsen ist. Bekannte Charaktere der Manga- oder Anime-Kultur finden
sich in den Arbeiten wieder oder die Figuren sind ihnen angelehnt, so die Papierfiguren von
Keisuke ISHINO oder die roboterartigen Miniaturkrieger aus Aluminiumbändern von Shota
KATSUBE. Takako SHIBATA zitiert jahrelang „Doraemon“, die „Micky Mouse“ Asiens, und
Shoichi KOGA bezieht sich auf die bekannten Mangas „The Great Goblin War“, „GeGeGe no
Kitaro” oder „Die Chroniken von Erdsee (Tales from Earthsea)“. Von der Science-Fiction-
Serie „Ultraman“ inspiriert, kämpft Ryoma MATSUDA als Kommandant der „Garde zur Ver-
teidigung der Welt“ gegen den Krieg und sieht sich als Beschützer des Friedens. Seine
Zeichnungen zeigen ein zartes, dichtes Liniengefüge, sorgsam mit Lineal gezeichnet, in
dem versteckte Meldungen und Befehle eingeschrieben sind. Ein Kämpfer für Gerechtigkeit
zur Rettung der Welt ist auch Takuma UCHIDA. In seinen Heften listet er alle Beteiligten
auf, darunter sowohl Figuren populärer Anime, Killerwale ebenso wie fiktive Figuren, als
auch seine Schulfreunde. Explodierende Raumdimensionen schafft Shinichi KUSUNOKI; und
Waraji GOSOKUNO, der abstrakte, traumartig fliessende Zeichnungen anfertigt, träumt da-
von, ein richtiger „Mangaka“ (Manga-Zeichner) zu werden, und übt jeden Tag.
Persönliche Erlebnisse wie Ängste sind ebenso spürbar. Kazuhiko TAKAHASHI zeigt Land-
schaften seiner Erinnerung, während Norimitsu KOKUBO und Yuji TSUJI fiktive Städte mit
realen Versatzstücken beschreiben. Obsessiv wuchernde Geschlechtsteile durchziehen die
Zeichnungen von Marie SUZUKI, obwohl oder vielleicht gerade weil sie sich vor weiblichen
und männlichen Geschlechtsorganen ekelt. Doch das Zeichnen scheint sie zu beruhigen und
ist inzwischen ein unentbehrlicher Bestandteil ihres täglichen Lebens. Auch Makoto OZU
bannt im Zeichnen seine Angst. Während eines psychotischen Schubs fühlte er sich von
Augen verfolgt und unablässig beobachtet. Seine fantastischen bunten Figuren zeichnen
sich durch eine besondere Gestaltung mit riesigen Augen aus.

Von subtiler Einfachheit sind die – meist nackten – genähten Stoffpuppen von Sakiko KONO.
Sie bilden eine Parallelwelt ihres Wohnheims, in der alle Menschen frei leben, zusammen die
Welt bereisen und fiktionale Länder gründen. Weltberechnungen stellt hingegen Koichiro
MIYA an, indem er sämtliche menschliche Fähigkeiten in Energieverbrauch und Kilokalorien
umrechnet. Universale Themen beschäftigen auch Hironobu MATSUMOTO, vom Weltall über
historische Kriege bis zum Krieg zwischen Bakterien und weissen Blutkörperchen. Unabhängig
vom kulturellen Hintergrund Asiens oder Europas setzen sich Maschinenträume und technische
Systeme in künstlerischen Arbeiten der Art Brut immer wieder durch. Bevor er sich dem Ton
zuwendete, baute SAWADA detailgetreue Autos und Busse aus Papier, ebenso wie Nobuo
MIZUTANI Papierzüge der realen Eisenbahn nachbaut, während Hidenori MOTOOKA die
Frontansicht aller ihm bekannten Züge ‚porträtiert‘. Erst auf den zweiten Blick erkennbar,
lösen sich aus einem Liniennetz plötzlich Fahrzeuge und Flugmaschinen, mal auch Vögel, in
den Blättern von Kenji TOMIYAMA. Wie technische Konstruktionszeichnungen muten auf
Millimeterpapier verspannte Bagger, Panzer und Flugzeuge bei Kenichi YAMAZAKI an. Oft
sind es hier auch abstrakte Darstellungen: Kontrollzentren, die er in seiner Imagination be-
dient. Hermetisch verschlossen bleiben dem Betrachter persönliche Ordnungssysteme, die
Shingo IKEDA in unzähligen Heften erfasst. Das gesamte Streckennetz und den kompletten
Fahrplan von Bus und Bahn, die Programmübersicht von Fernsehen und Radio, wie auch
die Namen von Baseball-Teams oder Anime-Charaktere hat IKEDA gespeichert.
Auch Art Brut-Künstler schaffen unter dem Einfluss künstlerischer Traditionen in Japan. Nicht
nur Shinichi SAWADAs Arbeiten stehen in der Tradition der Shigaraki Brennöfen und ihrer
historischen Keramikproduktion; Masaaki OE fertigt für sich in einer Werkstatt kleine Figuren
aus Ton, aber er arbeitet zudem in einer lokalen Keramikfabrik in Shigaraki. Von mythologi-
schen Okinawa-Löwenstatuen inspiriert, gestaltet Ryosuke OTSUJI seine „Shisa-Löwen“,
Wächter, die das Böse fernhalten, während die tönernen Miniaturfigürchen von Komei BEKKI
einladen, sie in die Hand zu nehmen, zu betasten, sie in die Tasche zu stecken und mit sich
zu tragen. Sie mögen an japanische Netsuke erinnern, wenngleich BEKKIs Keramikfiguren
ohne konkrete Funktion, nicht geschnitzt und von einfacher Formgestaltung sind.

Textiles Arbeiten ist ebenfalls eine alte japanische Tradition. Während Yumiko KAWAI Kreis-
formen zu üppigen dreidimensionalen Objekten verstickt, ziehen sich feine Linien durch Toyo
HAGINOs oft geometrisch anmutende Stickarbeiten, die jedoch auch figürliche Darstellungen,
wie beispielsweise eine Katze, umreissen können. Ihr linearer Charakter und das Arbeiten in
den bevorzugten Farben Blau und Weiss verweist auf die traditionelle Sashiko-Sticktechnik.

Direkt von der Kalligrafie leiten sich die Schriftgrafiken von Yuichi SAITO ab. Als Kalligrafen
im klassischen Sinne kann man ihn jedoch nicht bezeichnen. Er wählt Zeichen aus zuvor ge-
sehenen Fernsehtiteln und überschreibt sie unentwegt, bis sich luftig verwehte Wolkenfor-
mationen bilden – ohne zu berücksichtigen, ob die Schriftzeichen noch lesbar sind oder nicht.

Daneben finden sich zarte Zeichnungen von Waraji GOSOKUNO oder Yuichi NISHIDA, die mit
dem Stift poetische Gespinste weben. Wie Seidenfäden muten haarfein geschnittene Papier-
arbeiten von Yuki FUJIOKA an, die in ihrer unterschiedlichen Farbigkeit des Papiers vor den
Augen zu flirren beginnen.

In der starken Ästhetik dieser Arbeiten wie auch in den satten Farbkaskaden von Akane
KIMURA verwischen sich Grenzziehungen zwischen zeitgenössischer Kunst und Art Brut.
„Art Brut Japonais“ zeigt sich in der Ausstellung im Museum im Lagerhaus als Kaleidoskop
sehr unterschiedlicher künstlerischer Facetten, die zwischen hermetischen subjektiven Wel-
tentwürfen und Einflüssen japanischer Traditionen changieren und uns nicht nur Charakteris-
tisches der Art „Brut“, sondern auch eine ausgesprochene Schönheit vermitteln.

Ausstellung und Begleitkatalog sind in enger Kooperation mit dem Partnerland Japan ent-
standen: Herrn Yoichi Inoue, Chairperson of the Social Welfare Organization Aiseikai, Tokyo;
Frau Mizue Kobayashi, Art Director of the Social Welfare Organization Aiseikai, Tokyo, und
Team; Herrn Kengo Kitaoka, Chairperson of the Shiga Prefectural Social Welfare Organization.
Shinichi SAWADA (*1982)
Ohne Titel, 2010–2011
Ton, glasiert
IPEC collection
Marie SUZUKI (*1979)
‹Medizin gegen den Redefluss›, 2010
Tintenstift, Kugelschreiber
Besitz der Künstlerin
Ryosuke OTSUJI (*1993)
‹Okinawa-Löwe›, 2009
Ton, glasiert
Omi Gakuen
Yuki FUJIOKA (*1993)
Ohne Titel, um 2008–2010
Flyer (Papierarbeit)
Besitz des Künstlers
Shoichi KOGA (*1989)
‹Tateyama-Gaeru› (Tateyama Frosch-Kobold), 2006
Papier, Klebestreifen und Ölstift
Besitz des Künstlers
Keisuke ISHINO (*1983)
‹Mädchen›, 2010
Druckerpapier, Ölstift, Klebestreifen
Besitz des Künstlers
Keisuke ISHINO (*1983)
‹Mädchen›, 2010–2013
Druckerpapier, Ölstift, Klebestreifen
Besitz des Künstlers
Sakiko KONO (*1945)
‹Nackte Puppe›, 1990–1995
Stoff, Garn, Baumwolle
Besitz der Künstlerin
Kenji TOMIYAMA (*1957)
‹Huhn›, um 2009
Bleistift, Farbstift auf Papier
Besitz des Künstlers
Kazuhiko TAKAHASHI (*1941)
‹Ein goldener Tempel›, 2001
Tintenstift, Wasserfarbe auf Papier
Besitz des Künstlers
Shinichi KUSUNOKI (*1976)
‹GUNM (Pistolen-Träume) – Again›, 2008
Tintenstift auf Papier
Besitz des Künstlers