collection meets artist: inspired by Saï Kijima

18.3. – 8.7.2018

Zum 30-jährigen Jubiläum öffnet das Museum im Lagerhaus seine Sammlung für ein neues Ausstellungsformat: «collection meets artist». Der in Basel lebende japanische Künstler Saï Kijima (*1952) haucht unserer Sammlung neues Leben ein. Er ist Muse und Schöpfer zugleich. Seine persönliche Auswahl an Sammlungswerken tritt in direkten Dialog mit seinem eigenen reichen und vielfältigen Schaffen. Saï Kijima beseelt mit seiner Kunst. Er erschafft aus alltäglichen Dingen durch Farben, Gesang und Bewegung Wesen von entzückender Anmut. Sie zeichnen sich durch einen Moment der Stille aus, laden zum Innehalten ein, dringen in die eigene Seele vor. Saï Kijima verzaubert. Mit ihm gehen wir auf eine alle Sinne ergreifende Reise in eine andere, durch den shintoistischen Animismus geprägte Welt und lernen die Sammlung des Museum im Lagerhaus aus einer ganz neuen Perspektive kennen: «inspired by Saï Kijima».

Die Sammlungsintervention setzt ausgewählte Werke der Sammlung inmitten von Saï Kijimas faszinierenden Arbeiten. Seine reizenden Puppen schliessen Freundschaft mit Michel Nedjars mystischen «Poupées», spielen mit Paul Schlotterbecks Pistolen und Gewehren, stehen mit Linda Naeffs zerbrechlichen Tonskulpturen in tiefer Verbundenheit. Mit Philippe Saxer und François Burland verbinden ihn Unmittelbarkeit und Authentizität, mit Masao Obata Ursprung und Heimat. In Hans Krüsi findet der Künstler schlussendlich seinen «Bruder», mit dem er seine helle Begeisterung für Servietten und Papiertragetaschen teilt. Ton und Film runden die lustvolle Schau ab und bieten Einblick in ein einzigartiges künstlerisches Leben. 
collection meets artist

Die Ausstellung «inspired by Saï Kijima» ist Teil des neuen Ausstellungsformats «collection meets artist», das sowohl Einblicke gibt in das aktuelle Kunstschaffen der Outsider Art als auch in die Sammlung des Museums im Lagerhaus. Zum ersten Mal haucht ein Künstler der Sammlung neues Leben ein und eröffnet neue Perspektiven auf unsere Schätze. Seine persönliche Werkauswahl tritt in direkten Dialog mit seinem eigenen künstlerischen Schaffen. 

Seit die Stiftung für schweizerische Naive Kunst und Art Brut am 4. März 1988 ihre Sammlung erstmals im Ausstellungssaal des Regierungsgebäudes in St.Gallen mit rund 150 Schenkungen und etwa 50 Dauerleihgaben vorgestellt hat, ist nicht nur der Bestand zu einer bedeutenden Sammlung angewachsenen, sondern kann auch in einem grösserem Rahmen ausgestellt werden. Damit die kleinen und grossen Schätze nicht im Depot schwer zugänglich in vermeintlicher Vergessenheit schlummern, zeigt das Museum im Lagerhaus regelmässig in verschiedenen Ausstellungsformaten eine Auswahl seines grossen Sammlungsbestands und macht ihn für die Öffentlichkeit zugänglich. Die vielfältige Sammlung ist Basis für das neue Ausstellungsformat «collection meets artist», das im Jubiläumsjahr seine erste Ausgabe erfährt und mit einer speziellen Präsentation überrascht. Der Künstler Saï Kijima wurde eingeladen, aus dem immensen Fundus seine persönliche Auswahl an Werken zusammenzustellen: Die Sammlung des Museums im Lagerhaus inspired by Saï Kijima. 
Saï Kijima wählte jene Werke aus der Sammlung aus, die für ihn persönlich oder für sein Schaffen bedeutsam sind. Er ergänzt die Präsentation um eigene Arbeiten. So lädt er uns ein in seine eigene kreative Welt voller kleiner Dinge, die die Fantasie beflügeln, und haucht zugleich unserer Sammlung neues Leben ein. Er ist Muse und Schöpfer zugleich.
Die Sammlungsintervention präsentiert ausgewählte Werke der Sammlung inmitten von Saï Kijimas Arbeiten. Seine reizenden Puppen schliessen Freundschaft mit Michel Nedjars (*1947) mystischen «Poupées», spielen mit Paul Schlotterbecks (1920–1998) Pistolen und Gewehren, stehen mit Linda Naeffs (1926–2014) zerbrechlichen Tonskulpturen in tiefer Verbundenheit. Mit Philippe Saxer (1965–2013) und François Burland (*1958) verbinden ihn Unmittelbarkeit und Authentizität, mit Masao Obata (1943–2010) Ursprung und Heimat. In Hans Krüsi (1920–1995) findet der Künstler schlussendlich seinen «Bruder», mit dem er seine helle Begeisterung für Servietten und Papiertragetaschen teilt. Der 15-minütige Film «Saï Kijima» der niederländischen Stiftung Collectie De Stadshof (2011) zeigt den Künstler in Aktion und lässt das Publikum teilhaben an seinem Leben, seiner Kunst, seinen Visionen. 
Von Inspiration beseelt – das künstlerische Schaffen von Saï Kijima

Saï Kijima beseelt mit seiner Kunst. Er sieht die Seele in den Dingen, in den Erlebnissen, in unserem alltäglichen Sein. Alles hat seinen eigenen Zauber, ist voller Geheimnisse und Wunder. Alles inspiriert ihn. So entstehen aus alltäglichen Dingen durch Farben, Gesang und Bewegung Gestalten von entzückender Anmut. Sie stecken voller Begeisterung, Hingabe und Leidenschaft, voller Energie und Lebendigkeit. Saï Kijima verwandelt alte Socken in graziöse Damen, bringt kichernden Holzklötzen das Tanzen bei und lässt Tintenkleckse zum Leben erwachen, die uns leise ihre Geschichten erzählen. Mit Originalität und Erfindungsgabe bringen uns seine Werke zum Staunen und Nachdenken, laden ein zum Entdecken und Träumen. Sie zeichnen sich durch einen Moment der Stille aus, laden zum Innehalten ein, dringen in die eigene Seele vor.

Diese sogenannten dolls oder Puppen bestehen aus Fundgegenständen oder Abfällen des täglichen Lebens. Das bevorzugte Material von Saï Kijima ist Treibholz, Stofffetzen aus alten Kleidungsstücken, Schrott wie Nägel, Dosen oder Draht, Plastikmüll, zum Beispiel Flaschen oder Tüten, aber auch Karton aller Art. Die vielen leeren Verpackungen aus Karton benutzt er als Bildträger für seine Einzelbilder, die er zu Hunderten bemalt und beklebt. Die gefundenen Materialien fügt er zu einem neuen Ganzen zusammen. Alltägliche Gegenstände werden in ihrer skulpturalen Erweiterung zur Kunst und erhalten neue Sinnzusammenhänge und Bedeutungen. Aber sie sind noch mehr als das: Aus ihnen entstehen feinstoffliche Wesen, beseelte Gestalten, die einen Namen tragen und Persönlichkeit zeigen. 
Saï Kijima haucht seinen Puppen Leben ein, redet, tanzt und singt mit ihnen. Es handelt sich nunmehr um beseelte Wesen, die zu 人形 (ningyō) werden und zum Leben erwachen. Ningyō bedeutet auf Japanisch menschliche Gestalt. Ningyō sind traditionelle japanische Puppen und entsprechen dem, was man sich gewöhnlich unter einer Puppe vorstellt, nämlich eine Nachbildung der menschlichen Gestalt. Es gibt kaum ein Land, in dem die Puppe im Volksleben eine so hervorgehobene Stellung einnimmt wie in Japan. Die Herstellung von Puppen ist in Japan ein Zweig der schönen Künste und hat in der japanischen Kultur eine jahrtausendlange Tradition. Als sagenhafte und mythologische Figuren, aber auch als kindliche Geschöpfe werden sie in Unheil abwehrender Funktion bei volkstümlichen Festen und religiösen Zeremonien verwendet, als Spielzeuge oder als Talisman verschenkt. Die japanische Puppe muss nicht durch Anrufung der Götter beseelt werden, ihr wohnt schon im Sinne des shintoistischen Animismus allein durch die menschenähnliche Form eine Seele inne. Der in Japan weit verbreitete Shintoismus fasst alles Existierende als beseelt auf. Als Anerkennung dieser Seele erfahren Puppen aller Art in Japan auch einen spirituellen Respekt. Entsprechend sind Puppen mehr als Spielzeug. Sie begleiten den Menschen ein Leben lang und werden am Ende sogar bestattet. Puppen sind in Japan also etwas ganz besonderes und persönliches. So auch für Saï Kijima: «Every doll is a part of myself. They are like my children.» («Jeder Puppe ist ein Teil von mir. Sie sind wie meine Kinder.») 

Saï Kijima – zur Person

Saï Kijima ist am 20. Dezember 1952 in Nanatsue geboren, einem kleinen Küstenort in der Nähe von Nagasaki auf der japanischen Insel Kyūshū. Anstatt in die Fussstapfen seines Vaters und Grossvaters zu treten und Arzt zu werden, entscheidet er sich, den Menschen auf eine ganz andere Weise zu helfen. Er studiert Schauspiel und Tanz in Tokyo an der National University of Arts, unter anderem bei Meister Michizo Noguchi, Begründer der japanischen Tanzform und Körperarbeit Noguchi Taiso, und bildet sich fort im Method Acting bei Zen Hirano, einem Mitglieder der New Yorker Schauspielwerkstatt The Actors Studio. Saï Kijima steht eine steile Schauspielkarriere offen. Er arbeitet als Schauspieler für Theater, Film und Fernsehen. Jedoch entsagt er dieser „Welt der Eitelkeiten“ und entscheidet sich für einen anderen Weg. Dieser führt ihn mit 27 Jahren nach Europa, zuerst für drei Monate in die Schweiz, nach Fribourg, und im August 1980 nach Paris, um sich an der École Jacques Lecoq vertieft der Pantomime und dem Bewegungs- und Körpertheater zu widmen. Hier beginnt er mit Formen des Strassentheaters zu experimentieren und entwickelt eine ganz neue Bewegungs- und Ausdrucksform.

Kalado nennt sich diese Form des ganzheitlichen Körpererlebens, die Saï Kijima entwickelt hat und im wahrsten Sinne des Wortes verkörpert. Er widmet sein Leben dieser Bewegungskunst. Es ist ein auf die Körperwahrnehmung konzentrierter, sinnlicher Tanz ohne technisches Korsett. In Kalado verbinden sich Kunst, Tanz, Körperarbeit, worin auch die Stimme zu ihrem vollen Klang kommt, mit Körperbewusstsein, innerer Haltung und der Lehre von Achtsamkeit und Leere. Es geht darum, die eigene Wahrnehmung zu vertiefen und zur Übereinstimmung von Geist und Körper zu gelangen. Eine Verbindung zwischen uns und unserem inneren Selbst zu schaffen und den eigenen Weg und persönlichen Raum durch das bewusste Erleben des Körpers in der Bewegung zu finden. Saï Kijimas Botschaft ist nicht mit einem religiösen oder kulturellen System verbunden, steht aber in Zusammenhang mit traditionellen japanischen Künsten und Praktiken, mit Aikidō und der Lehre des Zen-Buddhismus. Kalado sei ein natürlicher Prozess, der keine besonderen Fähigkeiten oder Talente erfordere, jeder Einzelne von uns könne es, sagt Saï Kijima. Es brauche lediglich Freude, Körper und Seele zu bewegen. Dass er darin grosse Fertigkeit und viel Anmut besitzt, sieht und hört man bei seinen Performances.

Gestalterisch tätig war Saï Kijima schon immer. In Paris kreiert er erstmals Puppen aus Holz und Materialien des täglichen Lebens. 1986 zieht er von Paris zurück in die Schweiz, nach Biel, 1987 kommt er in Basel an. Bei einer Performance reisst die Achillessehne. Saï Kijima wird operiert und muss für längere Zeit im Krankenhaus bleiben. Um sich die Langeweile im Krankenbett besser vertreiben zu können, schenkt ihm ein Freund ein Zeichenbuch und Malutensilien. Das bedeutet eine wichtige Wende in seinem Leben und ist der Beginn seiner Karriere als bildender Künstler. Nun wendet sich Saï Kijima intensiv dem bildkünstlerischen Schaffen zu und es folgen erste Ausstellungen.

Er malt, zeichnet, collagiert, formt und erschafft Wesen, die sich ihm in ihrer charakteristischen Individualität einfangen lassen. Seine künstlerische Energie und inspirative Kraft ist unerschöpflich, lebt von der Vielfalt unterschiedlicher Ausdrucksformen. Das kreative Wirken durch alle möglichen Kunstformen ist für sein künstlerisches Selbstverständnis von zentraler Bedeutung. In seinen Arbeiten verbinden sich Schauspiel, Tanz, Musik und bildende Kunst in berührender und belebender Weise. Saï Kijima schlägt die Brücke zwischen den Kunstarten und setzt alles auf einzigartige, facettenreiche Weise um. Oft bezieht er seine Puppen in seine Performances mit ein. Sinnliches und Meditatives vereinen sich in der figurativen Darstellung von menschlichen Emotionen und Beziehungen zu einem harmonischen und spannungsreichen Werk.

Der Fasnachtsbegeisterte und Piccolospieler Saï Kijima lebt und arbeitet bis heute in Basel. Er reist viel um die Welt, stellt seine Werke aus und gibt Workshops, Performances und Konzerte. Vor zwanzig Jahren besuchte er erstmals Griechenland und kehrt fortan mehrmals jährlich hierher zurück. Viele seiner Arbeiten entstammen deshalb ideell der griechischen Mythologie oder materiell angespült aus dem Meer und dem Land dieser Heimat der antiken Götter.



Ausstellung und Text: Marina Pondini, Kunsthistorikerin M.A. und Kuratorin

Saï Kijima (*1952) «Maestro», 2012 Holz, Nägel, Acrylfarbe, 28x35x10 cm Besitz des Künstlers © Lorenzo Del Pace, Basel
Saï Kijima (*1952) «Roma», 2012 Bratpfanne, Holz, Fahrradkabel, Nägel, Tusche, 25x26x25 cm Besitz des Künstlers © Lorenzo Del Pace, Basel
Saï Kijima (*1952) «Tai», 2012 Gouache, Farbstift und Kohle auf Karton, 28x23 cm Privatbesitz © Lorenzo Del Pace, Basel
Saï Kijima (*1952) «Maada», undatiert Sumotori-Plakat, Papier, Tusche auf Karton, collagiert 40x60x5 cm Besitz des Künstlers © Lorenzo Del Pace, Basel
Saï Kijima, Foto: Lorenzo Del Pace © Lorenzo Del Pace, Basel
Saï Kijima (*1952) «Nanatsue II», 2016 Acrylfarbe, Filzstift und Kohle auf Karton, 36x39 cm Privatbesitz © Lorenzo Del Pace, Basel
Saï Kijima (*1952) «Hanlan», 2016 Acrylfarbe und Kugelschreiber auf Karton, 25x31 cm Besitz des Künstlers © Lorenzo Del Pace, Basel
Saï Kijima, Foto: Christian Vogt, in: «Christian Vogt: it was always there, it's just grown stronger», Lars Müller Publishers, Zürich 2014 © Christian Vogt, Basel
Saï Kijima (*1952) «Babshika I», 2017 Papiertüte, Flaschendeckel, Filzstift, 30x27x25 cm Besitz des Künstlers © Lorenzo Del Pace, Basel